VORWORT

Zu richtigem Verständnis der Weltpolitik Englands beizutragen, ist Zweck und Ziel dieses Bändchens. Es will die Jugend die Wege und Ziele, die die englische Politik seit dreihundert Jahrhunderten verfolgt, erkennen 
lernen. So wird klar werden, daß Englands heutige Verhalten uns gegenüber ganz seiner stets im Kampfe mit anderen Gegnern geübten Methode entspricht, daß die Enttäuschung, die uns sein Eintritt in die Reihen 
unserer Feinde bereitete, nur eine Folge der falschen Auffassung gewesen ist, die wir uns von der Denkungs-und Handlungsweise diese Volkes gemachte hatten. 

Wir haben England, seine Geschichte und seine Politik bisher nur durch die rosenrote Brille des  Englandfreunde betratchtet and betrachtet lassen. So erklärt sich, daß fur den englischen Unterricht verfaßte 
Unterrichtswerke, daß zahlreiche in unseren Schulen gelesene Ausszüge aus englischen Historikern ganz im Dienste jener Politik der Annäherung an England standen, deren Unfruchtbarkeit, ja Zwecklosigkeit wir am 
4. August 1914 so scherzlich erkannten.  Wir hatten eben bisher die englische Geschichte nur bewunderndernd und 
nicht kritisch gelesen. Wo findet sich auch in den bei uns eingeführten englischen Historikern der Krieg Philipps II. von Spanien mit England in das rechte Licht gerückt? Wo erfuhrt unsure Jugend, daß Spanien nur aus Notwehr seine Armada aussandte, um sich vor den jahrzehutelamgeu Plünderungen und Brandschatzungen Ruho zu verschaffen, mit denen englische Freibeuter im tiefsten Urieden, aber mit Billigung ihrer Königin, seine Küsten und Kolonien heimsuchten? Sind die von Cromwell, Karl II. und Wilhelm III. gegen Holland, Spanien und Frankreich geführten Kriege entschuldbareren Motiven entsprungen als die Raubkriege Ludwigs XIV.? — Aber etwas Ähnliches spricht ja auch Seeley in seinem Werke The Expansion of England aus, wird man uns entgegenhalten. — Ganz recht; aber ist es nicht auffällig und nur aus der allgemein geteilten früheren Voreingenounnenheit für England zu erklären, daß keine der Schulausgaben, die uns von Seeleys Buch vorliegen, das für den Geist englischer Politik so bezeichnende Kapitel “War and Commerceaufgenommen hat? Warum wird in unseren englischen Lesebüchern, die ein Kapitel über Wilberforce und die Abschaffung des Sklavenhandels bringen, wohl der edle Menschenfreund gepriesen, aber verschwiegen, daß das Ziel, an das er die Arbeit seines Lebens setzte, erst erreicht wurde, als der Sklavenhandel für die englischen Kaufleute kein Geschäft mehr war? Warum haben wir nicht längst dazu beigetragen, die große Lüge zu zerstören, daß England der Beschützer der bedrängten kleinen Völker sei, wo doch die physische und intelluktuello Verelendung der Iren, die Vergewaltigung Dänemarks (1807), die Beraubung Hollands (Kapkolonie), die Ausbeutung Portugals — um nur diese wenigen Fälle unter vielen zu nennen — das Gegenteil beweisen? — Aber, so mag man entgegnen, das mag ja alles seine Richtigkeit für das siebzehuto und achtzehnte Jahrhundert, vielleicht auch noch für die erste Hälfte des neunzehnten haben; das England der letzten fünfzig Jahre kann doch einer so rücksichtslosen, Völker- und Menschenrechte nichtachtenden Politik unmöglich geziehen werden. Im Gegenteil! Diese unedlen Züge der englischen Politik haben sich mit der zunehmenden Demokratisierung des Landes noch weiter verschärft. Vordem unverhü lt und robust zur Schau getragen, haben sie sich „tartüffiert”. Die englischen Staatsmänner haben es allmählich in der Kunst des cant (der verschämten Heuchelei, wie man mit Tönnies*) dies Wort vielleicht, übersetzen darf) zu einer kaum noch zu übertreffenden Meisterschaft gebracht und es verstanden, selbst den gröblichsten Verstößen gegen Völker- und Menschenrecht ein religiöses oder philanthropisches oder wenigstens patriotisches Mantelehen umzuhängen. Eine solche Politik hat selbst bei manchen rechtlich und vorurteilsfrei denkenden Geistern der englischen Nation nicht selten lauten Widerspruch hervorgerufen. So hat über diesen cant, der schon Lord Byron mit Widerwillen und Bitterkeit erfüllte, Sidney Whitman 1887 eine un-

*) F. Tönnies, Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, Berlin 1915 (Springer).

widerlegt gebliebene Schrift veröffentlicht (Conventional Cant, its Results and Remedy) und an die Spitze seiner Ausführungen ein Kapitel über „Pharisäismus” gestellt. Er sieht im cant das englische Nationalgebrechen, das, noch verbreiteter als die englische Bigotterie und Trunksucht, mit fast jeder Form der Selbstsucht und des Lasters in England mittelbar oder unmittelbar verbunden sei. Carlyle habe (nach seinem Biographen Froude) cant als die Kunst bezeichnet, Dinge scheinen zu lassen, was sie nicht sind, eine Kunst, die die Seelen derer, die sie üben, so vergifte, daß sie schließlich ihre eigenen ihnen ursprünglich bewußten Fälschungen für wahr halten und so in aufrichtiger Weise unaufrichtig seien.

Dieser cant wuchert naturgemäß besonders üppig in der auswärtigen Politik und in den Kriegen Englands, und noch im Jahre 1913 hat einer der angesehensten Staatsmänner des Landes, der wegen seiner Verdienste um Ägypten 1901 in don Grafenstand erhobene Lord Cromer (in seinen Political and Literary Essays, p. 9) die Redewendung vom „britischen Geist des ehrlichen Spiels” (fair play) als die Cant-Phrase des Tages bezeichnet (Tönnies, Englische Weltpolitik usw.).

Aber ob auch gelegentlich von Schriftstellern und Politikern klar erkannt und verdammt,

Right or Wrong, My Country!

ist nach wie vor der Grundsatz der englischen Politik goblieben.

Diese von englischen Staatsmännern und der überwiegenden Mehrheit der englischen Historiker geflissentlich verschleiert gehaltene Richtschnur der englischen Politik aus Zeugnissen hervorragender englischer Autoren vor den Augen unserer Jugend bloßzulegen, ist der Zweck der vorliegenden Schulausgabe.

Aus solchen Quellen geschöpft, wird diese Auswahl uns, so hoffen wir, vor dem Vorwurf bewahren, ein gewollt dunkles Bild zusammengestückt zu haben. Wenn wir nur einige, und nicht einmal die krassesten Fälle von der Skrupellosigkeit und Selbstsucht der Politik Albions aufgenommen haben, so gebot dies die Rücksicht auf den Umfang dieses Bändchens. Toneies' schon genannte Schrift, der wir manche Hinweise verdanken, läßt erkennen, wie reichhaltig das Material ist, das zu Gebote steht. Wegen Raummangels mußten auch die meisten der ausgewählten Texte mehr odor minder gekürzt werden.

Wir haben als Prolog einen dem Sammelband Facts and Comments (London, 1902) entnommenen Aufsatz von Herbert Spencer vorangestellt, aus dem zu ersehen ist, wie bekümmert der greise Philosoph dem sich immer ungenierter gebarenden Imperialismus und Jingoismus zusah. Eine rara avis!

Seeley, der vornehmste unter den die imperialistische Fahne schwingenden Historikern Englands, ist mit seinen beiden Büchern The Expansion of England und The Growth of English Policy zu bekannt, als daß es nötig wäre, ihn vorzustellen. Erwähnt sei nur, daß die Lektüre seiner Schriften heute, wo uns die Augen über England geöffnet worden sind, geradezu als Offenbarung anmutet. Schildern die aus Seeley entnommenen Abschnitte Englands Aufstieg zur Weltmacht, seinen Kampf mit schon verfallenden oder rivalisierenden Seemächten, seine in diesen Kriegen sich rücksichtslos und unbedenklich, aber auch erstaunlich großzügig äußernde Machtpolitik, so sind die Ausschnitte The Rohilla War aus Macaulays Warren Hastings, The Opium War aus J. Mc Carthy, History of Our Own Times und The Boer War aus dein in dieser Sammlung (Engl. Authors Liefg. 123) enthaltenen Bändchen Greater Britain von M. H. Ferrars schwere Anklagen gegen die ganz den Interessen seiner gewinnsüchtig en Kaufleute ergebene englische Politik.

Aber diese Anklagen treten weit zurück gegen die Schuld, die England in der Behandlung Irlands auf sich geladen hat. Wer wird ohne innere Empörung die aus W. H. Lecky, A History of England in the Eighteenth Century, aus Green, A Short History of the English People und aus Jonathan Swift, A Short view of the State of Ireland gezogenen Kapitel lesen?

Durch äußerst geschickt angewandte Mittel, durch feine diplomatische Künste hat es England vor dem Weltkrieg fertig gebracht, alle jene Erzählungen von den Greueln, die seine Truppen und wilden Hilfsvölker im amerikanischen Unabhängigkeitskriege begingen, aus amerikanischen Lesebüchern verschwinden zu lassen. Um so nötiger erschien es uns daher, die englische Auffassung von Kriegsbrauch und Menschlichkeit durch einen Abschnitt aus G. O. Trevelyan (Macaulays Neffen und Biographen), The American Revolution, zu boleuchten.

Der seinerzeit hochbedeutsame Essay von Richard Price On Liberty bot eine zeitgenössische, die Stellung der besonnenen Kreise in England zu dem amerikanischen Streit und die Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit der leitenden englischen Staatsmänner vortrefflich ins Licht rückende Darstellung.

Wie die die volle Entfaltung der persönlichen Freiheit des Individuums anstrebende englische Verfassung geradezu das Werkzeug wird, da, wo das wirtschaftliche Interesse von Engländern in Frage kommt, mit größter Grausamkeit Freiheit und Leben von Nichtengländern zu bedrohen und zu schädigen, erhellt aus den beiden letzten Abschnitten, England's Share in the Slave-Trade (aus W. H. Leckys oben genanntem Werk) und English Atrocities in Jamaica (aus dem ebenfalls schon erwähnten Werk von J. Mc Carthy, A History of Our Own Times).

Die den angeführten Texten beigegebenen Anmerkungen wollen zwei Zwecken dienen. Sie wollen in erster Linie den Text erklären, dann aber darüber hinaus den einzelnen Ausschnitt aus der englischen Geschichte in den größeren Rahmen des Weltgeschehens einspannen. Erweiterung des historischen Gesichtskreises unserer Jagend, Einführung in das Verständnis der Weltpolitik war das Ziel, das uns dabei vorschwebte.

Das Bändchen eignet sich für die oberen Klassen aller höheren Lehranstalten, der weiblichen wie der männlichen Jugend.

Wir haben noch eine angenehme Pflicht zu erfüllen: der Verlag von Velhagen & Klasing hat durch bereitwillige und schnelle Beschaffung der erforderlichen Hilfsmittel ganz wesentlich zum Entstehen des Werhehens beigetragen. Wir sagen ihm unseren wärmsten Dank.

Berlin

Die Herausgeber.